the midnight – jason

Alpenüberquerung 2020 – Mit dem Fahrrad zum Gardasee

Hallo liebes Tagebuch. Kannst du dich noch daran erinnern, wie lange ich dir schon davon erzähle, dass ich eines Tages einmal mit dem Fahrrad zum Gardasee fahren möchte? Die Tour bestreiten, von der Alle schwärmen, von der jeder nur Gutes erzählt? Letzte Woche, mein liebes Tagebuch, letzte Woche war es endlich soweit!

Und so beginnt auch diese Geschichte wieder frühmorgens am Bahnhof Niederroth, als Julian, Marlene und ich uns trafen, um die in meinen Augen sinnfreien 70 Kilometer um München herum zu sparen und gleich mit der S-Bahn nach Holzkirchen zu fahren. Sinnfrei deshalb, weil es bei unserer Reise nicht um das reine Abspulen von Kilometern oder irgendeinen Trainingsaspekt geht. Getreu dem Motto „Der Weg ist das Ziel“ war das Erleben vieler Eindrücke unterwegs Hauptmotivation für das Vorhaben.

Mein großer Dank geht an euch, Marlene, Max, Julian. Dafür, dass ihr diese Tour mit mir gemeinsam gefahren seid, geteilte Freude ist die schönste Freude! Dafür, dass dieser Urlaub so unfassbar unkompliziert und angenehm war. Kein Stress, kein Streit, kein Gar nichts an unangenehmen Situationen. Das ist etwas Besonderes, das ich zu schätzen weiß! Man hatte das Gefühl, ein Teil der Gruppe zu sein, die wirklich darauf bedacht war, dass sich jeder gleichmäßig einbringt und sich nicht auf den Anderen ausruht. Und das ist ein schönes Gefühl! Ich würde mich freuen, euch beim nächsten Mal wieder dabei zu haben!

 

Tag 1 – 104 Kilometer / 650 Höhenmeter von Holzkirchen nach Hall in Tirol

Das obligatorische Abschiedsfoto am Bahnhof durfte nicht fehlen, als wir uns Punkt 5 Uhr in der Früh in Niederroth trafen, um die S-Bahn nach Holzkirchen zu nehmen. Die lauwarme Sommernacht wurde nur doch eine leichte, erfrischende Brise unterbrochen und die Vorfreude auf die kommenden Tage war groß.

Eine gute Stunde später war von der warmen Sommernacht nichts mehr übrig. Der Morgen dämmerte und mit ihm brachten die Wolken sintflutartige Regenfälle. Am Bahnhof Holzkirchen angekommen entschieden wir nach einem kurzen Blick auf die Regenradar-App, welche keine Besserung in den nächsten Stunden zeigte, unsere Tour in strömendem Regen zu beginnen. Doch gerade in dem Moment, als wir losfuhren, blitze und donnerte es so stark in unserer Nähe, dass wir uns alle einig waren, die Abfahrt zugunsten eines Frühstücks in einer nahegelegenen Bäckerei zu verschieben. Einen frühzeitigen Tourabbruch mit folgendem Krankenhausaufenthalt durch einen Blitzeinschlag wollten wir vermeiden.

Nach dem Frühstück fuhren wir entlang der Bundesstraße über Bad Tölz und Lenggries in Richtung Sylvensteinspeicher. Die Fahrt war vor allem Eins und zwar richtig Nass. Nach wenigen Minuten waren unsere Schuhe und Hosen bereits komplett durchnässt, lediglich die Regenjacke hielt den Oberkörper trocken. Ich habe schon einige Regenfahrten hinter mir, aber diese Intensität und Dauer war auch für mich neu. Der durchweg guten Stimmung tat der Regen jedoch kein Abbruch und wir fuhren fröhlich und gut gelaunt weiter.

Und hier muss ich kurz unterbrechen und auf etwas hinweisen, dass mir schon in der ersten Niederlande-Radreise in einer ähnlichen Wettersituation aufgefallen ist und von dem ich weiterhin fest überzeugt bin: Man lernt eine Radreise bei gutem Wetter mit strahlend blauem Himmel und Sonnenschein erst dann wirklich zu schätzen, wenn man vorher einmal erlebt hat, wie furchtbar das Wetter auch sein kann. Je näher diese Wetterunterschiede beieinander liegen, umso stärker der Kontrast und umso größer die Freude über das gute Wetter!

Und irgendwann konnte man die Reise dann trotz Regen auch genießen. Denn kurze Zeit später, nachdem wir die Staatsgrenze zu Österreich bereits passiert hatten, fuhren wir am Ufer des Achensees entlang und die Aussicht war auch wolkenverhangen wunderschön!  Nicht ganz so schön und glücklich sahen jedoch die Gesichter der Radfahrer aus, an denen wir vorbeifuhren. Wir fuhren bestimmt an 8-10 unterschiedlichen Radgruppen vorbei, welche sich an Bäumen oder Bushaltestellen unterstellten und auf ein Ende des Regens warteten. Wir fuhren etwas schmunzelnd weiter, da wir nicht so sicher waren, auf was die anderen Radfahrer denn eigentlich so genau warten wollten. Die Regenschauer sollten uns noch Stunden begleiten.

Es war übrigens mein Ernst, dieser Satz mit der Wertschätzung des guten Wetters! Wie sonst lässt es sich erklären, dass wir uns wirklich laut gröhlend über den blauen Himmel und die langsam durchbrechende Sonne freuten. Der Himmel klarte mehr und mehr auf und die Temperaturen stiegen deutlich an. Nun hieß es Jacken ausziehen und endlich Kurz-Kurz fahren. Die eh schon gute Stimmung besserte sich noch mehr und wir fuhren fröhlich dem ersten Ziel der Tour entgegen – unserem Hotel bei Hall in Tirol.

Tag 2 – 72 Kilometer / 1250 Höhenmeter von Hall in Tirol nach Sterzing

Und der Tag begann so: Ein Kratzer in meiner Leica. Nervenzusammenbruch, Weltuntergang. Irgendetwas in meiner vorderen Lenkertasche hat einen Kratzer auf meiner Leica hinterlassen und verzweifelt wie ich war, habe ich die ganze Gruppe so genervt, dass wir noch einen Abstecher nach Innsbruck machen, um beim dortigen Vertriebspartner von Leica eine Schutzhülle zu kaufen. Also anstatt gleich unterhalb von Innsbruck Richtung Sterzing zu fahren, fuhren wir ein Teilstück in diese Richtung nach oben – 110 Höhenmeter „umsonst“ – und dann steil wieder bergab nach Innsbruck. Das alles, um festzustellen, dass der Laden keine Schutzhülle für die Leica Q2 auf Lager hat. Vorher anrufen ging leider auch nicht, denn wir standen Punkt 11 Uhr zu Ladenöffnung bereits vor dem Geschäft, da wir keine Reisezeit vergeuden wollten. Also brachen wir um kurz nach 11 unverrichteter Dinge auf unsere heutige Tagesetappe auf.

Ein neuer Tag, ein neues Gesicht. Während wir die gestrige Tour nur zu dritt bestritten, sind wir ab heute zu viert. Nach allen Zu- und Absagen waren wir eine 4er Gruppe, welche den Traum Alpenüberquerung zum Gardasee einmal erleben wollte. Nachdem wir den Start jedoch einen Tag vorgezogen hatten, um noch einen radfreien Tag am Gardasee genießen zu können, konnte Max nicht mehr von Anfang an mitfahren, da er keinen weiteren Tag Urlaub nehmen konnte. Der eigentliche Plan war, dass Max – fit wie er ist – Etappe 1 und 2 am Stück fährt und dann erst abends zu uns stößt. Nach einigem Hin- und Her hat Max jedoch entschieden, dass er mit dem Zug frühmorgens direkt bis nach Hall in Tirol fährt, um doch den ganzen zweiten Tag gemeinsam mit uns zu fahren. Das war in meinen Augen eine absolut richtige Entscheidung, geht es doch nicht ums reine Kilometersammeln, sondern um das gemeinsame Erleben und so konnten wir auch schon den zweiten Tag gemeinsam verbringen.

Neu war für viele auch die Erfahrung, mal richtig in den Bergen Fahrrad zu fahren. In den Bergen fahren bedeutet in diesem Fall ganz konkret, auf einer Strecke von 40 Kilometern knapp 1000 Höhenmeter Anstieg zwischen Innsbruck und der Spitze des Brennerpasses zu bewältigen. Immer auf den Spuren der alten Römer. Denn unsere Route verlief entlang der Römerstraße.

Auch neu – viel Neues, ihr merkt es schon – war die Erfahrung mit den Autofahrern in Österreich. In Deutschland fahre ich als Rennradfahrer immer ein Stück Richtung Mittelspur, wenn ich entgegenkommende Autos sehe. Das mache ich nicht, um eventuelle Autofahrer hinter mir zu verärgern, sondern im ihnen von vorneherein die Entscheidung abzunehmen, ob sie trotz Gegenverkehr und wenig Platz überholen sollen oder nicht. Sobald der Gegenverkehr weg ist, fahre ich dann auch sehr demonstrativ wieder ganz rechts an den Rand und mache die Straße frei. Angehupt wurde ich deswegen noch nie, dennoch eng überholt auch nicht. Ganz anders war es in Österreich. In meinen Augen ist diesen Autofahrern das Leben der Radfahrer einfach egal, anders kann ich es mir nicht erklären. Meine Taktik aus Deutschland gab ich nach nicht einmal einer Minute auf, denn die Autofahrer überholten trotzdem mit Zentimeterabstand, egal ob es Gegenverkehr gab, ob sie den Gegenverkehr abdrängten oder – wenn es dann doch richtig eng wurde, was auch bei uns ein paar Mal vorkam – dass beide Autos dann quasi zum Stillstand runterbremsen mussten, weil der Autofahrer hinter uns den Überholvorgang zumindest um jeden Preis einmal begonnen haben wollte. Unabhängig davon, wie dann der Ausgang sein wird.

Halbzeit am Anstieg, der erste Berg war geschafft. Auf einer Strecke von 7 Kilometern schafften wir gut 430 Höhenmeter. Im Schnitt galt es 6 Prozent Steigung zu bewältigen, wobei es flache Stücke, aber auch steilere Rampen mit 12-15 Prozent gab. Während wir am ersten Tag nach von Regen geplagt wurden, schien an diesem Tag durchweg die Sonne. Und Sonne in Kombination mit Bergfahren bedeutet in der Regel immer eins: Ganz viel Schwitzen. Das liegt daran, dass bei einer Geschwindigkeit von 6-8 km/h jeglicher erfrischende Fahrtwind fehlt, der etwas Kühlung bringen könnte.

In meinen Augen ist das aber auch immer eine ganz besondere Stimmung, die man sonst selten erlebt. Es ist sehr ruhig, beinahe richtig still. Kein Wind rauscht im Ohr, kein Lärm, nur du, der Berg und die Geräusche der Umgebung. Und eventuell auch das Rasseln der Kette, nachdem sämtliche Schmierung am Vortag weggespült wurde. Ohne Fahrtwind nimmt man all diese Geräusche viel intensiver wahr und das hat etwas richtig beruhigendes an sich.

Die Strecke war so schön und abwechslungsreich, wie ich es mir nur hätte erträumen können und auch die Autos wurden nach und nach deutlich weniger. Es ging wellig entlang der Bergkette dahin, immer weiter Richtung Italien. Der Ausblick und die Landschaft waren der absolute Traum und so wurde dieses Stück auch zu einem meiner Highlights der Tour! Wir fuhren als Gruppe dahin, bis wir von einem Rennradfahrer überholt wurden und zum Spaß blieb ich, mit Taschen vollbepackt, hinter ihm dran. Das gab bestimmt ein lustiges Bild ab, wie ich ihm da hinterher geeilt bin. Er drehte sich um, sah mich und legte noch einen Zahn zu, konnte mich aber nicht abschütteln und auch Max blieb an uns dran. An den Anstiegen machte ich noch so blöde Sprüche wie „Da schau Max, ist die Landschaft nicht schön“, um zu zeigen, wie locker es doch gerade vermeintlich war, wenn man noch Zeit hat, sich umzuschauen. Dabei war mir vollkommen klar, dass jeder von uns wusste, was für ein Blödsinn das ist, weil wir grad so am Anschlag Rad fuhren. So jagten wir den Radfahrer für 2-3 Minuten über die Berge, bis wir stehenblieben, um auf die anderen zu warten. War es anstrengend? Auf jeden Fall! Aber gerade solche kleinen Spielereien machen diese Touren so abwechslungsreich und unterhaltsam. Und der Radfahrer wird sich bestimmt auch seinen Teil gedacht haben!

Ein paar Stunden später, die Bilder sprechen Bände. Es wurde wärmer und wärmer. Langsam hatte man das Gefühl, wirklich schon vorangekommen zu sein und so erreichten wir entlang der Brennerstraße irgendwann einmal auch die Grenze zwischen Österreich und Italien. Wenn auch nur sichtbar durch ein Schild an einer nicht ganz so schönen Hauswand, so war es doch ein Moment des Stolzes, dass wir es wirklich schon bis nach Italien geschafft hatten. An die restlichen knapp 200 Kilometer zum Gardasee dachte in diesem Moment keiner und so wurde erst einmal die Mittagspause eingeläutet.

Ja, liebes Tagebuch, was du hier siehst, ist mein Teller. Wiener mit Pommes. Ich hatte mir wirklich fest vorgenommen, in Italien ausschließlich Pizza als Hauptspeise zu essen (kein Witz), aber gleich 100m nach der Grenze gab es keine Pizza. Und ihr werdet euch jetzt denken: Wie, es gab nirgends einen Italiener? Doch schon! Aber eben nicht, wenn man erst 15:30 Mittagessen möchte. Da hatten beinahe alle Geschäfte geschlossen. Und dann kam der Witz, der mich den Rest der Reise begleiten sollte:

Bei der Bedienung bestellte ich ebenjene Wiener mit Pommes und Panna Cotta als Nachspeise. Auf die Rückfrage, ob alles zusammen gebracht werden sollte, überlegte ich erst zögerlich und sagte dann, ja gleich alles zusammen zum Essen. Was ich meinte: Alles gleichzeitig bringen und ich esse dann Wiener mit Pommes und danach Panna Cotta, ohne eben extra auf die Nachspeise warten zu müssen. Was die Bedienung aber verstand: Alles gleichzeitig bringen, damit ich es gleich zusammen essen kann. Und so kam direkt von ihr ein leicht angewiedertes, aber auch belustigtes  „Naaah, desch geht fei ned guad zam“ und wir alle fingen an zu lachen. Ich ließ mich dann überreden, es doch erst später kommen zu lassen.

Eine kleine Quizfrage: Woran erkennt man, dass wir in Italien angekommen waren? Richtig – die Radwege. Die restlichen 200 Kilometer bis zum Gardasee fuhren wir tatsächlich zu bestimmt 98% auf Radwegen, nur in manchen Ortschaften oder zum Wechseln der Straßenseite mussten wir tatsächlich auf der Straße fahren – welche dann meistens auch noch einen Radweg besaß.

Endlose Weiten, Szenen wie aus einem Bilderbuch, die Zeit verging schneller als gedacht. Stop, Pause, aus, Radfahren beendet. Nach einem perfekten Tag im Sattel sind wir in Sterzing angekommen und zur Überraschung war nicht nur Champions-League Halbfinale, sondern auch noch Stadtfest in Sterzing. Eine Frechheit in Augen mancher, solch unwichtige Ereignisse (Stadtfest) mit solch wichtigen Ereignissen (Fußball) auf einen Tag zu legen! Der Müdigkeit geschuldet nahmen wir jedoch an keinem von beiden Teil. Nach dem Essen ging es direkt ins Bett. Bis auf Julian, ein waschechter Fan, der sogar sein Bayern-Triko dabei hatte, um es in der Bar beim Zuschauen Stolz zur Schau stellen zu können! Und so dösten wir langsam ein, während Julian dein Einzug ins Champions-League Finale feierte.

Tag 3 – 122 Kilometer / 350 Höhenmeter von Sterzing bis Nave San Rocco

Der dritte Tag begrüßte uns wieder mit herrlichem Sonnenschein und dem Wissen, am Ende der Tagesetappe dem Gardasee schon so unfassbar nah zu sein. Das Packen der Taschen und Bestigen am Rad ging wie gewohnt super, keiner hatte Probleme damit und alle waren flott startklar. Es stand ein schöner Tag vor uns, denn es sollte entlang des Radweges über Brixen und Bozen bis kurz vor Trient gehen und zwischendrin erlebten wir wieder so Einiges.

Was wir erlebten? Nunja, zum einen, Achtung Trommelwirbel, der Knick! Ja, es kann passieren, dass man die Tasche nicht so ganz richtig packt, wie sie gepackt gehört und irgendwann hat die Tasche dann auch keine Lust mehr und mag Schlafen. So auch hier. Plötzlich spürte Julian während der Fahrt ein starkes Bremsen des Hinterrades. Tatsächlich hat sich die Tasche nach unten geknickt und schliff schön am Hinterrad. Also hielten wir an, damit Julian die Tasche neu packen konnte.

Ihr werdet es vielleicht gemerkt haben, aber ich habe bisher noch nicht viel von Zwangspausen zum Umpacken der Taschen erwähnt. Das lag daran, dass es dieses Mal einfach fast keine Pausen dafür brauchte. Alles lief super beim Packen und Befestigen der Taschen, es gab keine Probleme mit dem Platz und jeder bekam immer alles bei sich unter und musste nichts bei anderen aufladen. Das war einfach richtig schön, zu sehen, wie gut sowas klappen kann. Und so waren wir wirklich kein bisschen genervt bei den wenigen Pausen und nutzen diese, um uns zu verpflegen und etwas die Landschaft zu genießen.

Wie an deren anderen beiden Tagen auch durfte die ausgedehnte Mittagspause nicht fehlen. Vor allem, weil es an diesem Tag im Schnitt zwischen 32 und 34 Grad hatte und die Sonne sehr stark von oben herunterbrannte. So kam es, dass wir auch zwischendurch einfach mal Pausen machten, um stehen zu bleiben, die Beine auszustrecken und etwas zu trinken. Die große Mittagspause hatten wir uns wirklich redlich verdient, denn die anfängliche Euphorie des Tages über das Ausbleiben des berühmt-berüchtigten starken Gegenwindes im Etschtal wich schnell der Einsicht (und dem doch aufkommenden Gegenwind), dass wir diesen Tag nur mit viel Fahren im Windschatten meistern würden. Und so nahm der Tom-Taxi Express schnell fahrt auf und wir fuhren die Windschatten-Segmente meist mit einem 28er Schnitt mit starkem Gegendwind – Wie sonst fährt man mit 230 Watt im Schnitt „nur“ einen 28er Schnitt?

Nach einiger Zeit merkte Julian an, dass seine Knie schon seit längerer Zeit wehtaten, was nach einem kurzen Blick auf seine Sitzposition auch kein Wunder war – der Sattel war deutlich zu niedrig. Also schraubten wir den Sattel etwas hoch, damit es nicht noch schlimmer wurde und noch einigen kurzen Testrunden hatten wir auch die richtige Höhe gefunden. Uns war aber allen klar, dass eine Verbesserung nur durch Ruhe eintreten würde und die würden wir erst am Gardasee haben. Also hieß es, Durchbeißen und so wenig Belastung wie möglich. Lerneffekt für uns: Jegliche orthopädische Probleme gleich von Anfang an klar kommunizieren, desto früher kann man auf eventuelle Probleme einwirken.

Bei einer der wenigen Pausen zur Orientierung überholte uns ein älterer Herr auf einem normalen Trekkingfahrrad. Sportlich flott war er unterwegs. Als unser Zug fahrt aufgenommen hatte, schafften wir es zwar, den Mann einzuholen, er blieb aber im Windschatten direkt hinter uns. Der Radweg verlief mal auf der linken und mal auf der rechte Uferseite der Etsch, welche uns bereits seit vielen Kilometern begleitete und bei jedem Richtungwechsel überholte uns der Mann wieder, weil er schlichtweg die ganzen Abkürzungen kannte und so plötzlich wieder vor uns auf dem Radweg auftauchte. Das geschah bestimmt 3-4 Mal und irgendwann wollte ich ihn dann so schnell überholen, dass er mental brach und nicht versuchen würde, im Windschatten zu bleiben. Das erreicht man, indem man mit so einem Geschwindigkeitsüberschuss überholt, dass der andere sich denkt „So schnell, da kann ich nie dran bleiben“. Das kündigte ich auch an, war aber vielleicht „etwas“ zu euphorisch beim Losfahren und riss so erst einmal die Gruppe ordentlich entzwei. Auch, weil ich in diesem Moment gar nicht daran gedacht hatte, dass Julian mit seinem Knie gar nicht richtig reintreten konnte. So ließen wir den Radfahrer dann nach einem erneuerten Überholvorgang seinerseits ziehen und führen gemütlich weiter.

So schöne Landschaften, da kann man sich schonmal ablenken lassen und einfach in das Hinterrad vom Vordermann fahren und dann Stürzen. Ok, Spaß beiseite, so hat sich der einzige Sturz des Urlaubs nicht zugetragen. Der obligatorische Sturz, der natürlich bei keiner Radreise fehlen darf. Marlene und Max fuhren ein Stückchen weiter vor Julian und mir. Ein Schulterblick von mir nach hinten, ich sah Julian vermeintlich links hinter mir und sagte kurz „Fahr weiter, ich mach schnell ein Foto“ und einen Moment später beim Abbremsen spürte ich auch schon die Berührung am Hinterreifen gefolgt vom Sturzgeräusch Julians. Tatsächlich hat er sich nicht soweit links befunden wie gedacht, da hatte ich nicht richtig geschaut, und auch tatsächlich fuhr er gerade zur Entlastung etwas im Wiegetritt und konnte gar nicht so schnell zur Bremse greifen, wie es nötig gewesen wäre. Eine denkbar schlechte Kombination von Zufällen. Und so kam er zu Fall. Lerneffekt für mich: Langsam abbremsen und nicht ganz so abrupt wie bisher.

Zum Glück hielt sich der Schaden am Körper in Grenzen und am Rad gab erstaunlicher Weise gar keine Schäden. Gut, dass Julian die Schmerzen da so hingenommen hat und weitergeradelt ist, Hut ab, ich hätte ziemlich gejammert!

Tag 4 – 62 Kilometer / 230 Höhenmeter von Nave San Rocco nach Torbole

Ein bisschen wehmütig starteten wir in den Tag, sollte es doch wirklich der letzte Radfahrtag der Reise werden. Die Radfahrt verlief bis auf die schöne Durchfahrt durch Trient relativ abwechselungsarm und ich machte auch nicht so viele Fotos. Wir wollten flott vorankommen und so verzichteten wir auf eine Mittagspause. Groß war wieder die Hitze und wir zählten Kilometer für Kilometer herunter, bis wir ankamen und die ersten kalten Getränke am Gardasee genießen konnten!

Es ist schön, dass auch die Streckenplaner in Italien einen gewissen Sinn für Humor haben. Dieser Humor stellt sich dann so dar, dass die Radfahrer aus München nach 365 Kilometern quasi 3 Kilometer vor dem Ziel und teils schon sichtlich erschöpft  noch einmal eine fiese Rampe mit 15% Steigung erklimmen mussten. So steil, dass hier viele Radfahrer schoben. Wir aber haben uns stolz der Herausforderung gestellt und auch diese letzte Prüfung erfolgreich gemeistert, natürlich im Sattel und nicht schiebend. Und dann ist es schon passiert.

Gardasee – here we are! Was für ein Ausblick, welch Freude! Wir haben es tatsächlich geschafft – mit dem Fahrrad zum Gardasee!

Nach dem Einchecken und Duschen im Hotel beschlossen wir, hinunter zum Strand zu laufen. Hinunter, fragt ihr euch? Ja, wir uns anfangs auch. Unser Hotel lag am oberen Rand von Torbole, was auch erklärte, warum die Zimmer nur ein halbes Vermögen und kein Ganzes gekostet haben. Glücklicherweise hatten wir so schlaue Füchse unter uns Vieren, die oben beim Trinken schon geschaut haben, wo sich unser Hotel befindet. Denn ich wäre intuitiv erst einmal zum Wasser gefahren und hätte da dann gemerkt, dass ich die 160 Höhenmeter Differenz zwischen Hotel und Wasser wieder hätte hochfahren dürfen.

So verbrachen wir den Tag damit, erst den komplett überfüllten Strand aufzusuchen und anschließend Essen zu gehen. Wobei Strand schon eine sehr positive Beizeichnung für das ist, was Torbole da zu bieten hat. Ein schmaler Streifen aus feinen Kieselsteinen, auf denen sich viel zu viele Menschen drängen. Man hatte das Gefühl, Corona würde hier gar nicht existieren und es wäre wie vor 5 Jahren. Beim Abendspaziergang ist es dann aber doch passiert. Wir haben ein wunderschönes Stück verlassenen Strand gefunden, wo wir Baden gingen und einfach die Zeit genossen haben.

Tag 5 – 13 Kilometer / 1350 Höhenmeter – Was muss, das muss!

Wie, was ist denn das jetzt? Tag 5? Ich dachte, gestern sei der letzte Tag auf dem Rad gewesen. Das dachten wir auch, aber irgendwer wollte am Samstag in der Früh noch Radfahren (=ich) und irgendwer wollte nicht die eine steile Straße 10x hintereinander hochfahren, sondern etwas Landschaft erleben (=Marlene). Und so kam es, wie es kommen musste, und wir fanden diesen einen rennradtauglichen Anstieg, der uns so viel lehren sollte. Prati di Nago. Der Berg, der stolz direkt vor unserem Hotel auftrohnt. 13 Kilometer, über 1300 Höhenmeter Anstieg, durchschnittlich 11% Steigung mit Rampen bis zu 20%. Keiner von uns ist jemals so einen Berg hochgefahren und dementsprechend groß war der Respekt vor solch einer Tour. Bei jedem von uns! Der einzige Vorteil dieser Tour: Wenn man nicht mehr kann, dreht man um und lässt bis zur Hoteltür rollen. Denn der Anstieg startete direkt bei uns am Hotel. Insbesondere Marlene machte sich hier zu Recht Sorgen, zum einen vor der Auffahrt und zum anderen auch vor der entsprechend steilen Abfahrt. Und auch, weil wir vereinbart hatten, dass jeder in seinem Tempo fährt und Marlene dann auch allein wäre. Was ist bei einem Platten, was wenn sie stürtzt? Und ich bin auch nicht unbedingt hilfreich, weil ich Leute gerne dazu „nötige“, sich beim Sport mehr zuzutrauen und ihre Komfortzone zu verlassen, was eben doch unangenehm sein kann. Und ich selbst kenne das ja nur zu gut. Meine Entschuldigung: Ich habe bisher aber eben noch nie die Erfahrung gemacht, dass es die Personen im Nachhinein bereut haben, wenn sie es sich dann doch getraut haben.

Und so starteten wir um Punkt 07:02 Uhr mit dem Aufstieg. Wir beschlossen, das erste Stück gemeinsam zu fahren und später sollte dann jeder für sich in seinem Tempo rollen. Das war mir wichtig, damit Marlene und auch Max lernen konnten, wie langsam und locker man solche Steigungen eigentlich hochfahren kann. Etwa das Schlangenlinien-Fahren auf der Straße, damit man die anfallenden Höhenmeter auf mehr Strecke verteilt und somit in Summe weniger Steigung hat.

Julian blieb aufgrund seines schmerzenden Knies vernünftiger Weise unten und machte stattdessen eine leichte Wandertour, um auch etwas zu sehen und so kämpften wir uns nur zu dritt die ersten 300 Höhenmeter gemeinsam nach oben. Etwas später verabschiedeten Max und ich uns von Marlene und fuhren etwas zügiger hoch, aber stets gemeinsam.

So zählten wir Kilometer für Kilometer herunter. Noch 8,9 Kilometer, noch 7,9 Kilometer, dann waren es irgendwann nur noch 2,9 und 1,9 Kilometer und dann fing der Spaß so richtig an. Bei durchgehend 15 Prozent Steigung hast du das Wort Steigung wirklich verstanden. Bei den darauffolgenden 20% im Schnitt auf den letzten 500 Metern hast du es dann aber so richtig verstanden, also so richtig richtig verstanden, was das Wort Steigung eigentlich bedeutet. So steil, dass man trotz einer Trittfrequenz von 45-55 Umdrehungen pro Minute noch 300-400 Watt aufbringen musste. So steil, dass das Vorderrad bei jeder Kurbeldrehung nach unten leicht von der Straße abhob. Und so steil, dass du jede der wenigen Kehren verflucht hast, weil der Anstieg dahinter einfach nicht enden wollte.

Aber er endete. In einer.. nunja, irgendwie Enttäuschung. Waren wir stolz, es geschafft zu haben? Wahnsinnig! Und wie stolz wir waren! Zeigte es doch, dass man nun eigentlich jeden Pass in Europa fahren kann, wenn man diesen Berg hochgekommen ist. Klar, manche sind deutlich länger und haben noch mehr Höhenmeter an Anstieg, aber es gibt nur ganz wenige Anstiege, die auf dieser Länge so steil sind. Und es ist schönes Gefühl, das zu wissen. Es gibt einem unheimlich viel Selbstbewusstsein auf seine sportliche Leistungsfähigkeit. Anderseits hatten wir uns aber auch auf den tollen Ausblick über die Region gefreut, sind wir doch immerhin bis auf 1550m hochgekurbelt. Aber statt eines Ausblicks endete die Straße an einem Wanderparkplatz, umrandet von Wald und Bäumen. Ausblick Fehlanzeige. Für einen richtigen Ausblick müsste man nochmal ein paar Kilometer mit 500 Höhenmeter weiter wandern. Das haben wir aber erst oben erfahren, am Schild des Anfangs vom Wanderweg. Mit Fahrrad und Rennradschuhen war das keine Option für uns. Und so entschieden wir uns, Marlene entgegenzufahren, um wenigstens sie vor dieser Enttäschung zu bewahren. Das Staunen war groß, als Marlene bereits nach der vierten Kehre zu sehen war.. Wow, da hatte sie sich ganz schön hochgearbeitet und kam auch über 1100 Höhenmeter hoch. Sie wollte so gar nicht Recht aufhören zu fahren, als wir ihr sagten, dass sie stehenbleiben kann, aber nach kurzer Zeit ließ sie sich dann doch überreden und wir berichteten von unserer Erfahrung „oben am Berg“.

Happy Marlene! Und auch schön zu hören, wieviel sie am Berg gelernt hat, welche neuen Erfahrungen sie gemacht hat. Und auch, dass sie dann doch sehr froh war, mit hochgefahren zu sein 🙂 Den restlichen Tag verbrachten wir noch mit einem Aufenthalt im Nachbarort Riva Del Garda und einem gemütlichen Abendessen zum Ausklang. Der Wecker würde früh klingeln, fuhr unser Shuttle doch bereits um 08:30 Uhr an einem Platz unten am Ort los.